Eigentlich sollte dieser Blogeintrag ein Abschnitt des nächsten Artikels werden. Jetzt erscheint es mir aber doch passend, ihn auszulagern und vorzuziehen. Außerdem bietet sich mir dadurch die Möglichkeit, die vor beinahe einem Jahr begonnene Reihe fortzusetzen.
Wenn ich über das Setting spreche, ist der Begriff "realistisch" nicht zu gebrauchen, da er mehrdeutig ist: Einmal bezeichnet er den Grad, wie sehr ein Setting einer Epoche unserer realen Geschichte oder Gegenwart ähnelt. Darüber zu sprechen ist wohl müßig. Daher verwerfe ich den für das Setting uneindeutigen Begriff "Realismus" und benutze fortan allein die zweite Bedeutung: Plausibilität, also eine annehmbare, einleuchtende und nachvollziehbare Ursache-Wirkungs-Beziehung.
Ich unterscheide zwei Formen der Plausibilität:
Zunächst gibt es jene Plausibilität, die allein den fiktiven Hintergrund betrifft. Ursache wie nachvollziehbare Wirkung liegen beide in ihm selbst begründet, sie sind settingimmanent. Sie haben nichts mit den harten Regelkernen des Rollenspielsystems zu tun, mit dem das Setting bespielt wird. Sie ist die gleiche Form von Plausibilität, die man auch von einem Film oder Buch erwartet und ist nicht rollenspielspezifisch. Da sie nichts mit den harten Regeln eines Rollenspiels zu tun hat, sei es mir erlaubt, sie Fluffplausibilität zu nennen.
Ein Beispiel für Fluffplausibilität wäre die Versorgung einer Fantasystadt: Eine Millionenstadt in einer Eiswüste ist nicht vorstellbar, wenn nicht tagtäglich gewaltige Karawanen die Stadt erreichen (und selbst dann wäre die Stadt aufgrund exorbitanter Nahrungsmittelpreisen, Brennstoff et cetera nur sehr schwer plausibel zu machen). Die Stadt muss also bedeutend kleiner sein, so dass sich die wenigen Einwohner von Robbenjagd oder ähnlichem ernähren können, oder inmitten wogender Weizenfelder liegen. Beides ist (im Regelfall) nicht in den Regeln abgebildet und somit unabhängig vom Regelwerk. Die Plausibilität wird nicht davon tangiert, ob ich das Setting mit D&D, GURPS oder Savage Worlds bespiele. (Sie ist nur möglicherweise für bestimmte Spielstile unwichtig ? siehe unten!). Nachvollziehbare Reaktionen der NSCs auf Geschehnisse, wirtschaftliche und gesellschaftliche Einflüsse, grundlegende naturwissenschaftliche Gesetze ? all das ist unter Fluffplausibilität zu zählen.
Crunchplausibilität bildet die Möglichkeiten, die die Regeln bieten, in der Spielwelt ab - dort liegt die Ursache, während die Wirkung weiterhin im Rahmen des Settings bleibt. Man erwartet von einer Regel, dass ihre nachvollziehbare Folge in der Spielwelt auch so existiert. Crunchplausibilität lässt sich mit High-Magic-Systemen am besten erklären: Wenn es auf niedrigen Stufen den Zauber "Feuerball" gibt (Crunch), werden Heere nicht in enger Formation marschieren - ein feindlicher Magier auf Sichtweite reicht und die Einheit wird gegrillt. Mächtige und verbreitete Magie ersetzt moderne Artillerie, moderne Luftaufklärung, Transportmöglichkeiten, insgesamt die moderne Kriegsführung. Daher es plausibler, sich moderne Kriege als Vorbild zu nehmen als klassisch antike oder mittelalterliche. Das gilt natürlich nicht nur für Fantasysettings: In Science-Fiction-Rollenspielen werden beispielsweise die Raumkampfregeln und Schiffskosten die Plausibilität des Settings stark bestimmen.
Frisch gelesen und gutes Beispiel: Bei Paizos Pathfinder sollen sich Imps und Pseudodrachen auf den Dächern Korvosas bekriegen und so der Atmosphäre des Settings dienen (Blogeintrag und Übersetzung). Vom Crunch her war das problematisch: Pseudodrachen können Imps nicht verletzen. Anstatt die Regeln einfach zu ignorieren, haben Paizos Designer sich Gedanken gemacht und eine Lösung ersonnen - hier auf der Regelseite, nicht auf der Settingseite. Das Talent "Imptöter" wurde eingeführt, welches die Pseudodrachen besitzen. Ein schönes Beispiel für gelungene Bemühung um Crunchplausibilität.
Um den Bogen zur Fluffplausibilität wieder zu schließen: Die genannte Beispielstadt in der Eiswüste wäre durchaus lebensfähig, wenn das Regelsystem genügend einfache Zauber zuließe, mit denen man Nahrung, Kleidung und Wärme erschaffen könnte. So kann Crunchplausibilität fehlende Fluffplausibilität ersetzen. Aber mehr noch: Durch die Wahl eines Regelsystems wird derartige Crunchplausibilität zur Fluffplausibilität, da dann vorausgesetzt wird, dass derartige Magie im Hintergrund selbst selbst existiert (möglicherweise als retroaktive Festlegung). Eine Unterscheidung ist jedoch aus folgendem Grund notwendig: Habe ich ein Setting gestaltet und auf die Plausibilität geachtet, und überlege mir jetzt erst, mit welchem Regelsystem ich das Setting bespiele, muss ich eine erneute Plausibilitätsprüfung unternehmen.
Zuletzt noch einige Hinweise für Plausibilität:
- überprüfe, ob das Setting überhaupt plausibel sein soll. Wenn das Setting als Hintergrund für ein Pulp-Rollenspiel dient, ist möglicherweise die Fluffplausibilität völlig egal. Crunchplausibilität ist für Erzählspiele unwichtig, für ARS hingegen umso bedeutender (zumindest dann, wenn die Charaktere anwesend sind. Sind sie nicht da, kann durchaus die Crunchplausibilität verletzt werden, z.B. durch den Sturmtruppeneffekt: Die Schergen des Bösen sind bedeutend stärker als sie sein dürften, wenn es gegen einfache NSCs geht).
- Wenn Plausibilität und Spielspaß kollidieren, sollte immer der Spielspaß die Oberhand behalten. Man muss sich nur klar machen, ob Plausibilität für den persönlichen Spielspaß wichtig ist oder nicht. Eine große Portion Suspension of Disbelief schmeckt manchem besser, und dann ist es Unsinn, auf Gedeih und Verderb an Onkel Plausi festzuhalten.
- Plausibilität ist nicht immer eindeutig. Das weiß jeder, in dessen Runde schon Theologen, Naturwissenschaftler, Historiker und Mediziner die Brille zurechtgerückt und belehrend den Zeigefinger gehoben haben. Die fröhlichste Spielrunde kann so zum eifrigsten wissenschaftlichen Diskurs oder zum Streit über Halbwahrheiten werden. Lass das nicht zu! Fragwürdige Plausibilität sollte immer schnell und fair mit den üblichen gruppeninternen Konfliktlösungsstrategien geklärt werden.
Es grüßt
Grimnir