Beim Stöbern in alten Forenbeiträgen (Ich blättere immer in älteren Beiträgen - ich esse auch gerne warmgemachtes Essen vom Vortag) stolperte ich über folgende Aussagen:
Ich frag mich gerade wie ein abstraktes System realistisch sein kann.
Möglichst komplex? Vielleicht ein am wenigsten Unrealistisches?
Dogio
Realistische Regeln
Geht wieder spielen. Sowas wird und kann es NIE geben. Es ist ein RollenSPIEL. Genau. Das lesen wir jetzt alle noch einmal und verinnerlichen es S-P-I-E-L.
Danke.
Ja, das war gerade notwendig, ich kann nämlich langsam das Argument der realistischen Regeln, die die Auswirkung einer Kugel auf einen menschlichen Körper darstellen, nicht mehr hören, sehen oder lesen. Ich habe mich damit abgefunden, dass ein Spiel abstrahiert und vereinfacht, aus Gründen des Spielspaßes, und das ist auch gut so.
Masterbrain
Ich schnappe mir mal exemplarisch den ersten Punkt.
"Regeln sind objektiv NICHT realistisch : Simulation a la Harnamster geht nicht"
Ich frage mich, wie man auf die Idee kommen kann, Rollenspielregeln wären fähig, 'objektiv' eine wie auch immer geartete Realität abzubilden? Und zu simulieren?
Damit diese Kritik überhaupt irgendwie anschlussfähig ist, nehme ich nun einmal provisorisch an, es ginge hier konkret um Kämpfe (als den weit und breit am stärksten verregelten Bereich so ziemlich aller Rollenspiele). Wie um Himmels Willen soll ein Regelwerk einen Kampfablauf richtiger oder weniger richtig erfassen? Letztendlich existiert immer ein klarer Fokus auf bestimmte, bewusst gewählte Bereiche. Von Realismus oder Simulation weit und breit keine Spur. Eher ergibt sich ein symbolischer Transfer in eine z.B. mathematische Ebene.
Wenn man sich bei DSA etwa auf (sehr verkürzt dargestellt) den Wechsel von Angriff und Verteidigung konzentriert und dabei z.B. Angst, Adrenalin, Gleichgewicht, Zorn, Blutverlust etc. ausblendet, dann ist das doch kein Fehler? Sondern eine bewusste Entscheidung nach den Parametern - wie schnell klappt die Umsetzung am Tisch? Kann ich taktische Entscheidungen ermöglichen? Wie gut passt sich der Regelansatz ins Gesamtwerk ein? Und ähnlichem.
Andere Entscheidungen in anderen Rollenspielen sind in erster Linie anders. Aber doch nicht besser? Oder - um Himmels Willen - realisitischer?
Mir ist also der ganze Ansatz der Kritik völlig schleierhaft. Erschwerend kommt hinzu, dass es mir in meiner eigenen kleinen Welt durchaus (und zwar fortwährend) gelingt, irgendwelche Situationen im Spiel so in Regeln abzubilden, dass man sich darüber einig ist. Dadurch erreicht mein Simulationslevel quasi sehr respektable 100%.
Sineijdan ar Asjawell
Zusammen mit anderen derartigen Statements, z.B. dem SchErz-Manifest beim
Hofrat, brachte mich das zum Grübeln über den Realismus im Rollenspiel. Immerhin bin ich ein alter Hârnmaster-Fanboy, spiele also ein Regelwerk mit dem Untertitel "Das realistische Rollenspiel" - und spiele es gerne! Wieso sollte man den Begriff "realistisch" nicht verwenden dürfen? Zunächst einmal muss man zwischen zwei Elementen unterscheiden: Realismus in den Regeln und Realismus im Setting. Letzteres ist in der Tat problematisch und wird daher von mir im nächsten Beitrag diskutiert. Jetzt zunächst einmal zu den Regeln:
Im Regelbereich erscheint auf den ersten Blick klar, was "realistisch" bedeutet: Die vollständige Abbildung der "Physik" der realen Welt in den Rollenspielregeln. Dazu müsste man das komplette Regelwerk (also die Natur- und Geisteswissenschaften) der realen Welt kennen. Das ist nicht möglich und wird auch wegen infinit vieler Einflussfaktoren niemals möglich sein (selbst eine "Grand Unified Theory" wird die Welt nicht erklären können). Ein Beispiel aus dem Kampfbereich (Sineijdan bleibt beim Kampf, also bleibe ich es auch): Blöderweise juckt dem Kämpfer eine kleine Stelle am Rücken, er grübelt außerdem über den Vorwurf eines Freundes von letzter Woche nach, ist insofern unkonzentriert und versemmelt deswegen seinen Schwertstreich. Derartiges ist in keinem Rollenspielregelwerk enthalten (glücklicherweise). Die Zahl anderer Beispiele ist Legion. Daher ist keine vollständige Abbildung der realen Umstände möglich. Das Regelsystem muss immer abstrakt bleiben. Soweit stimme ich mit Sineijdan und den anderen Scholaren überein.
Das ist allerdings derart banal, dass man es niemandem erklären muss. Das wusste Skyrock (auf dessen Post sich Sineijdan bezog), das weiß jeder, auch die Macher von Hârnmaster. Da ist es doch viel eher wahrscheinlich, dass jemand, der im Rollenspielbereich den Begriff "realistisch" gebraucht, eben nicht die
vollständige Abbildung der realen Welt meint, sondern lediglich den Komparativ "realistischer".
Und hier sehe ich das Problem in Sineijdans Post. Natürlich gibt es "realistischere" Rollenspielregeln in dem Sinne, dass sie in einer Situation (Kampf) die Realität unserer Welt besser abbilden als andere Rollenspielsysteme. Damit kann ein System den Kampfablauf richtiger bzw. weniger richtig erfassen als andere, nämlich genau dann, wenn mehr Faktoren eine Rolle spielen, wenn an mehr Elementen ein "symbolischer Transfer" auf eine abstrakte Ebene vollzogen wird, also ein geringerer Abstraktionsgrad vorliegt. Welche Elemente mehr? Die wichtigen! Was sind die wichtigen? Im Randbereich sicherlich zu diskutieren, im Kern jedoch klar: Alles, was man in einer Situation (z.B. Kampf) und damit zusammenhängend einigermaßen deutlich wahrnehmen kann: Verwundungen, Kampfstile, Parade- und Blockmöglichkeiten, Kampferfahrung, Rüstungsmaterial und -qualität, Detailliertheit der Trefferzonen, Moral & Panik, und Sineijdans Werte wie Angst, Adrenalin etc. (Gute Ideen übrigens...) Wenn mehr dieser Elemente ins Regelwerk Eingang finden und detaillierter (Achtung: Schlüsselbegriff!) dargestellt werden, ist das Rollenspiel realistischer als andere, bei denen das nicht einbezogen wird.
übrigens: Eine Simulation (Egal, ob es sich um ein Planspiel oder um eine Computerflugzeugsimulation handelt) hat überhaupt nur dadurch eine Existenzberechtigung, dass sie möglichst realistisch ist und die reale Welt möglichst detailgetreu und auf niedrigem Abstraktionslevel abbildet. Wer sagt, Realität lasse sich grundsätzlich auch nicht ansatzweise simulieren, sollte mal die Fluggesellschaften davon überzeugen, ihre Simulatoren zu verhökern. Diese basieren auch auf Regeln - auf wesentlich komplexeren als beim Rollenspiel, aber auch auf Regeln.
Also können wir uns vielleicht darauf einigen, das "realistisch" in einem Rollenspiel bedeutet: "
geringerer Abstraktionsgrad als der Durchschnitt anderer bekannter Rollenspielsysteme". Natürlich kommt es auf die Vergleichsgruppe an, aber die ist mit DSA bzw. D&D als erfolgreichsten Systemen (in Deutschland) ohnehin gegeben.
Noch einige
Beispiele:
Preußische Miniaturenspiele des 19. Jahrhunderts (Vorläufer heutiger Tabletops) sind realistischer als Schach, da mehr Elemente einer Schlacht einfließen (Verschiedene Waffengattungen und die Konsequenz daraus), der Abstraktionsgrad insgesamt niedriger ist. Im Vergleich zu Schach sind preußische Miniaturenspiele also realistisch.
Hârnmaster ist realistischer als D&D, da bei D&D der Kampf sehr abstrakt ist: z.B. existiert nach den Grundregeln keine Möglichkeit zur Parade. Würde man aber einen D&D-Kampf nacherzählen, würde man selbstverständlich farbenfroh und spannend eine Parade in irgendeiner Form beschreiben. Denn bei einem Schwertkampf gibt es sie natürlich - sie ist nur im Regelwerk nicht abgebildet, da man bewusst eine hohe Abstraktionsebene angestrebt hat.
Jetzt, beim Drüberlesen, kommt mir mein Beitrag banal vor. Allerdings gibt es anscheinend genug Schreiberlinge da draußen, die sofort oberlehrerhaft mit irgendwelchen "Kann nicht sein"-Weisheiten kontern, wenn der Begriff "Realismus" fällt.
Um Diskussionen vorzubeugen:
Und welchen
Wert besitzt Realismus im Rollenspiel? Objektiv keinen. Subjektiv muss es jeder für sich entscheiden, da erhöhter Realismus meistens erhöhte Regellastigkeit bedeutet. Realismus ist also ein
relativer Wert. Ich spiele gerne Hârnmaster, weil ich manchmal (!) dreckige, realistische Kämpfe mag und dann auch die Regellastigkeit akzeptiere. Ich spiele D&D, weil mir meistens (!) der Realismus nicht so wichtig ist und ich taktisch spannende Kämpfe bevorzuge, die auch unrealistisch sein dürfen (also regeltechnisch abstrakter). Ich spiele DSA, weil die Regeln so toll ... oh ... weil mir Aventurien so gut gefällt
An der Sache vorbei gehen Argumente wie "Realismus kann man eh nicht ganz erreichen - soll man daher ganz bleiben lassen". Ach ja? Beispiel aus der Ethik: Kann ein Mensch vollständig "gut" sein? Nein? Trotzdem lasse man bitte das Bestreben nicht bleiben. Wenn man "Realismus" subjektiv als Wert im Rollenspiel empfindet, dann auf: Strebet dahin und lasst Euch nicht dadurch beirren, dass man Euch weismachen will, Realismus sei nicht möglich.
Zum Abschluss in diesem Zusammenhang noch zwei Fragen an Euch:
- Wer hat den Begriff "phantastischer Realismus" für DSA geprägt? Wo steht er überhaupt? Im Vinsalt-Thread wurde darauf keine Antwort gefunden.
- Wie verortet man "Realismus" in der Forge-Theorie? Unterkategorie von Simulationismus?
Es folgt in den nächsten Beiträgen:
- Realismus II - Die Regeln sind nicht die Welt: Muss der Hintergrund / das Setting realistisch sein?
- Realismus III - Realismus und tARS: Ist es möglich, beide Spielstile in einem Regelwerk ohne faule Kompromisse zu fördern?